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Es war Herbst, und die Blätter fielen wie Töne einer sanft gezupften Harfe zu Boden. Später Nachmittag, die Sonne begann allmählich zu sinken; golden leuchteten die Farne, und das purpurrote Heidekraut auf den Hügeln sah aus, als wäre es im Schmelzen begriffen.

Die Sommerquartiere des Hochkönigs waren auf einem niedrigen, flachen Hügel mit Aussicht auf das ringsum sich dehnende Land errichtet. Auf dem Gipfel des Hügels verstreut lagen Einfriedungen, Viehpferche und die mit Palisaden umgebenen Lager des königlichen Gefolges. Das Lager bot einen beeindruckenden Anblick, denn das Gefolge des Hochkönigs war groß. Druiden, Hüter der alten Brehon–Gesetze der Insel, Harfenisten, Barden, Mundschenke – von den königlichen Kriegergarden ganz zu schweigen: Diese Ämter wurden hoch geschätzt und oftmals innerhalb einer Familie vererbt. Am Südrand des Hügels befand sich die größte Einfriedung, und in ihrer Mitte stand eine große kreisrunde Halle mit Wänden aus Balken und Flechtwerk und einem hohen, mit Stroh bedeckten Dach. Ein großes Tor bildete den Eingang zu dieser königlichen Halle, in deren Mitte auf einem frei stehenden Pfahl ein in Stein gehauener Kopf mit drei Gesichtern thronte, die in verschiedene Richtungen blickten, als sollten sie die dort Versammelten daran erinnern, dass der Hochkönig wie die Götter in der Lage war, alles zugleich zu sehen. Auf der Westseite der Halle befand sich eine erhöhte Galerie, auf der der Hochkönig und seine Königin am späten Nachmittag zu sitzen pflegten, um den Sonnenuntergang zu beobachten.

In weniger als einem Monat würde das magische Samhain–Fest stattfinden. Dann würde das überschüssige Vieh geschlachtet und der Rest in das Ödland hinausgetrieben und später in Pferche gebracht werden, während der Hochkönig und seine Mannen zu ihren Winterrundreisen aufbrachen. Bis dahin herrschte jedoch eine geruhsame und friedliche Zeit. Die Ernte war eingefahren, das Wetter war noch warm. Der Hochkönig hätte eigentlich zufrieden sein können.

Seine dunkelblauen Augen blickten unter buschigen Brauen hervor. Obwohl sein Gesicht durch ein Geflecht winziger Äderchen gerötet war und sein stämmiger, einst stark von Sehnen gespannter Körper zu verfetten begann, strotzte er immer noch von Energie. Seine Gemahlin, eine groß gewachsene Blonde, hüllte sich bereits seit einiger Zeit in Schweigen. Endlich, nachdem die langsam sinkende Sonne gerade hinter einer Wolke verschwunden war, löste sich ihre Zunge.

»Es ist schon zwei Monate her.«

Er antwortete nicht.

»Es ist schon zwei Monate her«, wiederholte sie, »zwei Monate, seit Ihr mich zum letzten Mal umfangen habt.«

»So lange schon?«

»Zwei Monate.« Sollte sie die Ironie in seinem Ton bemerkt haben, so ignorierte sie sie.

»Dann müssen wir es dringend wieder tun, meine Liebste«, fuhr er in seinem falschen Ton fort. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich immer und immer wieder in Liebe umarmt hatten, aber diese Zeit war vorbei. Ihre Söhne waren längst erwachsen. Der Hochkönig blickte weiter starr auf die Landschaft.

»Nichts tut Ihr für mich«, sagte sie mürrisch.

Er zögerte, schnalzte dann leise mit der Zunge und wies mit der Hand nach links.

»Wollt Ihr gütigst einmal dorthin blicken?«

»Was gibt’s dort?«

»Schafe.« Interessiert beobachtete er ihr Treiben. »Gerade ist der Widder bei ihnen.« Er schmunzelte befriedigt. »Er ist im Stande, hundert Schafe zu bespringen.«

Die Königin ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen, dann folgte wieder Stille.

»Ein Nichts!«, platzte sie dann plötzlich heraus. »Ein Ding wie ein schlaffer, nasser kleiner Finger. Das ist alles, was ich bekomme! Nichts, woran eine Frau sich festhalten kann. Ich hab sogar einen Fisch gesehen, der steifer war. Ich hab sogar eine Kaulquappe gesehen, die größer war. Euer Vater hatte drei Gemahlinnen und zwei Konkubinen. Fünf Frauen, und er konnte sie alle bedienen.« Die Menschen auf der Insel sahen in der Monogamie nichts besonders Tugendhaftes. »Aber Ihr…«

»Schau, jetzt hat sich diese Wolke schon fast von der Sonne verzogen.«

»Ein Nichts seid Ihr für mich, zu nichts zu gebrauchen.«

»Und doch«, er ließ sich Zeit, sprach in einem nachdenklichen Ton, als spräche er von einem historischen Kuriosum, »und doch dürfen wir nicht vergessen, dass ich eine Stute besprungen habe.«

»Behauptest du.«

»O nein, das ist wirklich geschehen. Denn sonst hätte ich kein Recht, hier zu sitzen.«

* * *

Das Initiationsritual, das auf der Insel ausgeführt wurde, wenn ein großer Clan einen neuen König gewählt hatte, reichte bis in die Nebel der Vorzeit zurück und gehörte einer Tradition an, die unter den indoeuropäischen Völkern von Asien bis zu den westlichen Ausläufern Europas verbreitet war. In dieser Zeremonie wurde zunächst ein weißer Stier getötet, und darauf musste der künftige König sich mit einer heiligen Pferdestute vereinigen. Die irischen Sagen stellten das ebenso deutlich dar wie die indischen Tempelreliefs. Die Stute war in der Regel nicht besonders groß. Von mehreren kräftigen Männern gehalten und mit den Gesäßbacken in geeigneter Weise gespreizt, wurde sie dem künftigen König präsentiert, der, so lange er – durch welche Mittel auch immer erregt werden konnte, keine große Mühe hatte, sie zu penetrieren. Ein passendes Ritual für ein Volk, dessen Führer, seit es aus den Ebenen Eurasiens aufgetaucht war, aus Männern bestand, die mit dem Pferd praktisch verheiratet waren.

* * *

Ob die Königin noch an die Stute dachte oder nicht, war schwer zu sagen; aber nach einer Weile ergriff sie wieder das Wort, diesmal mit leiser Stimme: »Die Ernte ist vernichtet worden.«

Unwillkürlich blickte der Hochkönig in die leere Halle zurück, in der das dreigesichtige Haupt von seinem Totempfahl in die ihn umgebenden Schatten starrte.

»Und Ihr seid schuld daran«, fügte die Königin hinzu.

Der Hochkönig war ein gewiefter Politiker mit großer Menschenkenntnis. Sein Clan war voller Ehrgeiz aus dem Westen gekommen. Mit der Behauptung, er würde von mythischen Gestalten wie dem berühmten Conn der hundert Schlachten und Cormac Mac Art – Helden, die sie vielleicht sogar nur erfunden hatten – abstammen, hatte der Clan bereits viele Ulster–Häuptlinge von ihrem Grund und Boden vertrieben. Der Aufstieg des Clans hatte in den Erfolgen gegipfelt, die seine Mitglieder ihrem heroischen Führer Niall zuschrieben.

Wie viele erfolgreiche Führer der Geschichte war auch Niall erst Pirat gewesen. Schon in seiner Jugend hatte er Raubzüge auf die britische Insel geleitet, welche die römischen Legionen verlassen hatten. Zumeist hatte er Knaben und Mädchen geraubt, die er dann auf den Sklavenmärkten verkaufte; die Gewinne daraus konnte er für sich selbst und seine Gefolgschaft nutzbar machen. Wenn sich ein König einem anderen unterwarf, war es Brauch, dass der Unterworfene Tribut zahlte, und zwar gewöhnlich in Form von Vieh; als Garantie für seine fortwährende Untertanentreue stellte er überdies Geiseln. Angeblich sollen so viele Könige Niall ihre Söhne als Geiseln gesandt haben, dass er als Niall der neun Geiseln im Gedächtnis blieb. Sein mächtiger Clan hatte nicht nur die Vorherrschaft über die Insel errungen und den Titel des Hochkönigs beansprucht, sondern auch die Könige von Leinster gezwungen, ihm den alten Königssitz Tara zu überlassen, den sie zum zeremoniellen Zentrum ihres eigenen Hauses zu machen gedachten, von dem aus sie die gesamte Insel beherrschen konnten.

Aber so mächtig Nialls Clan auch sein mochte – auch Hochkönige waren der Gnade von noch mächtigeren, natürlichen Kräften ausgeliefert.

Es war ganz unerwartet, direkt nach dem Lughnasa–Fest geschehen. Zehn Tage Regen hatten den Boden in einen Sumpf verwandelt und die Ernte vernichtet. Niemand konnte sich an einen Sommer wie diesen erinnern. Und schuld daran war der Hochkönig. Auch wenn die Ratschlüsse der Götter selten klar waren, konnte ein so schreckliches Wetter nur bedeuten, dass sich zumindest einer von ihnen beleidigt fühlte.

Jeder Ort hatte seine besonderen Götter. Sie wuchsen aus der Landschaft und den Geschichten der Menschen hervor, die einst dort gelebt hatten. Jeder konnte ihre Gegenwart spüren. Wenn ein Mensch sich auf einen der erhöhten Orte der Insel begab, den Blick über die smaragdgrünen Wälder und Wiesen schweifen ließ und die weiche Luft der Insel einatmete, platzte ihm schier das Herz vor Dankbarkeit gegenüber Eriu, der Muttergöttin des Landes. Wenn am Morgen die Sonne aufging, strahlte er, wenn er sah, wie der gute Gott Dagda auf seinem Ross über den Himmel ritt – der freundliche Dagda, dessen magischer Zauberkessel ihn mit allen guten Dingen des Lebens versorgte. Wenn er an der Küste stand und hinaus auf die Wellen blickte, konnte ihn leicht das Gefühl beschleichen, als sähe er den Meeresgott Manannan Mac Lir aus der Tiefe aufsteigen.

Aber die Götter konnten auch Furcht einflößen. Unten, vor der Südwestspitze der Insel, auf einem Fels in der schäumenden Brandung, wohnte Donn, der Herrscher über die Toten. Bei den meisten Menschen war Donn gefürchtet. Und auch die Muttergöttin konnte Angst und Schrecken verbreiten, wenn sie die Gestalt der zornigen Morrigain oder Morgane annahm, mit ihren Raben kam und in der Schlacht über den Männern ihr krächzendes Geschrei anhob.

Die Könige hatten große Macht, solange ihr Tun den Göttern gefiel. Aber auch ein König hatte sich in Acht zu nehmen. Wenn ein Herrscher einen Gott – oder auch nur einen der Druiden oder filidh, der mit ihnen sprach – verärgerte, konnte er leicht eine Schlacht verlieren. Jedermann wusste: Ein schlechter König brachte Unglück; ein guter wurde mit satten Ernten belohnt. Dahinter steckte eine bestimmte Moral. Die Leute sprachen es vielleicht noch nicht offen aus, aber er wusste, was sie sich im Stillen dachten: Wurde die Ernte vernichtet, dann war vermutlich der Hochkönig daran schuld.

Aber sosehr er auch sein Gewissen erforschte, der Hochkönig konnte sich an kein bedeutendes Vergehen von seiner Seite erinnern, das den Zorn der Götter auf sein Haupt herabgezogen haben könnte. Er belohnte sein Gefolge gut; die Feste des Hochkönigs waren prunkvoll. Er war gewiss kein Feigling. Er war nicht neidisch oder kleinlich. Auch seine Gemahlin konnte sich in dieser Hinsicht nicht beklagen.

Er hatte die Druiden um Rat gefragt. Auch sie konnten ihm nur dazu raten, Opfer darzubringen. Im Moment herrschte gutes Wetter. Daher hatte er vor ein paar Tagen beschlossen, abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln.

»In Connacht wurde Euch Schande angetan.« Wie ein Dolch durchstieß die Stimme seiner Frau das Schweigen, in das sich seine Gedanken hüllten. Unwillkürlich zuckte er zusammen.

»Das ist nicht wahr.«

»O doch, es war eine Schande.«

»Ihr meint, die Schmach, die mir in Connacht zugefügt wurde, war das, was den Regen brachte. Ist es das, was Ihr damit sagen wollt?«

Sie antwortete nicht, doch zumindest einen Moment lang schien endlich einmal ein leichtes befriedigtes Lächeln über ihr Gesicht zu huschen.

Der Zug nach Connacht hatte im Nichts geendet. Im Sommer war es Brauch, dass der Hochkönig und seine Bediensteten bestimmte Teile der Insel besuchten und Tributzahlungen erhielten. Dadurch wurde nicht nur die höchste Autorität des Hochkönigs bestätigt, sondern es wurden auch bedeutende Einnahmen erzielt. Große Viehherden wurden zusammengetrieben und den Weiden des Hochkönigs zugeführt. In diesem Sommer hatte er sich nach Connacht begeben, wo der König ihn höflich empfangen und ohne Ausreden bezahlt hatte. Aber es stellte sich heraus, dass der Betrag nicht vollständig war, und der König von Connacht hatte mit größter Verlegenheit erklärt, dass sich einer der Häuptlinge von Connacht geweigert hatte, seinen Anteil zu erbringen. Da das Territorium des Mannes auf seinem Heimweg lag, hatte der Hochkönig erklärt, er werde die Sache persönlich regeln.

Als er das Gebiet des Häuptlings erreicht hatte, war weder der Mann selbst noch sein Vieh zu finden gewesen, und nach einigen Tagen fruchtloser Suche hatte der Hochkönig seine Reise unverrichteter Dinge fortgesetzt. Binnen eines Monats war die Sache auf der ganzen Insel bekannt. Er hatte eine Abordnung seiner Männer ausgeschickt, um den widerspenstigen Kerl zu ergreifen, aber wieder war der Mann aus Connacht seiner Ergreifung entwischt. Er hatte beabsichtigt, nach der Ernte in der Sache endgültig ein ernsthaftes Machtwort zu reden, doch die Regenfälle hatten ihn daran gehindert, und so war er nun die Zielscheibe des allgemeinen Gespötts. Dieser Häuptling würde zu gegebener Zeit teuer bezahlen müssen, aber vorläufig war die Autorität des Hochkönigs geschwächt. Und dennoch hatte er beschlossen, sich Zeit zu lassen.

»In diesem Winter dürfte man uns wenig gastfreundliche Aufnahme gewähren«, meinte seine Frau. Pflegte der Hochkönig im Sommer seinen Tribut einzufordern, so hatte er im Winter eine andere Art, die Leute seine Gegenwart spüren zu lassen: Er stattete ihnen einen Besuch ab. Und obwohl sich viele Häuptlinge dadurch geehrt fühlen mochten, sahen sie dem Moment, wo die königliche Schar wieder aufbrach, meist mit Freuden entgegen. »Sie haben fast alles aufgezehrt, was wir an Vorräten besaßen«, lautete die übliche Klage.

»Dieser windige Häuptling, der Euch Schande macht. Zehn Färsen schuldet er Euch.«

»Genau. Aber nun werde ich mir dreißig nehmen.«

»Die solltet Ihr nicht annehmen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil er etwas viel Wertvolleres besitzt, etwas, was er sorgsam versteckt.«

Stets verblüffte es den König aufs Neue, wie seine Gemahlin es verstand, die verborgenen Einzelheiten von anderer Leute Geschäften aufzuspüren.

»Und was wäre das?«

»Er besitzt einen schwarzen Stier. Die Leute sagen, er sei der größte auf der ganzen Insel. Er hält ihn versteckt, da er vorhat, eine ganze Herde mit ihm zu züchten und ein reicher Mann zu werden.« Sie hielt inne und blickte ihn hasserfüllt an. »Da Ihr mich mit nichts anderem befriedigt, könntet Ihr mir wenigstens diesen Stier verschaffen.«

Voller Verwunderung schüttelte er den Kopf.

»Ihr seid ja eine wahre Maeve«, meinte er. Jeder kannte die Geschichte der Königin Maeve, die aus Neid darüber, dass die Viehherde ihres Gemahls einen größeren Stier als ihre eigene Herde besessen hatte, den großen Sagenhelden und Krieger Cuchulainn aussandte, um den Schwarzen Stier von Cuailnge zu fangen, und von dem tragischen Gemetzel, zu dem dies führte. Diese Geschichte gehörte von allen Götter– und Heldensagen zu denen, welche die Barden am liebsten erzählten.

»Ihr verschafft mir diesen Stier für meine Herde«, sagte sie.

»Wünscht Ihr, dass ich ihn Euch persönlich verschaffe?«, fragte er.

»Natürlich nicht.« Sie starrte ihn finster an. »Das würde sich nicht schicken.« Hochkönige führten so geringe Unternehmen wie Viehdiebstähle in der Tat nicht persönlich aus.

»Wen soll ich dann entsenden?«

»Schickt Euren Neffen Conall los«, sagte sie.

Als sich der Hochkönig die Sache durch den Kopf gehen ließ, musste er, und dies nicht zum ersten Mal, zugeben, dass seine Gemahlin eine kluge Frau war. »Ja, eine gute Idee«, meinte er nach einer kurzen Pause. »Das könnte ihm vielleicht den Wunsch aus dem Kopf schlagen, ein Druide zu werden. Aber ich denke«, fuhr er fort, »wir sollten damit besser bis zum nächsten Frühling warten.«

Und diesmal war es die Königin, die ihrem Gemahl einen Blick voller Hochachtung zuwarf. Denn sie ahnte, was in seinem Kopf vorging. Vermutlich hatte er den Fall Connacht absichtlich noch nicht erledigt. Sollte es unter den vielen Häuptlingen der Insel nämlich Neigungen geben, seine Autorität zu schwächen, so würde er ihnen während der Wintermonate die Zeit geben, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Er würde sie in dem Glauben wiegen, sie könnten ihr Komplott in aller Heimlichkeit schmieden. Aber sobald er wusste, wer seine Feinde waren, würde er sie zerschmettern, bevor sie Zeit hatten, sich zusammenzurotten.

»Gut, dann sagt jetzt noch nichts davon«, forderte sie, »sondern schickt Conall während des Beltaine–Festes nach dem Stier aus.«

* * *

Als nach einem kurzen Schauer die Sonne durch den feuchten Schleier brach, wölbte sich direkt über der Liffey–Mündung und der Bucht ein Regenbogen.

Wie sehr sie die Gegend von Dubh Linn liebte! Mit der ständigen Aussicht vor Augen, sie verlassen und nach Ulster ziehen zu müssen, genoss Deirdre jeden einzelnen Tag. Wenn ihr die Lieblingsorte ihrer Kindheit stets lieb und teuer gewesen schienen, so war ihr nun, als seien sie von einem seltsam schmerzlichen Gefühl durchdrungen. Sie wanderte oft am Ufer des Flusses entlang oder ging ans Meer hinaus und folgte den langen gewundenen, mit Muscheln übersäten Sandstränden, die zu dem felsigen Hügel am Südende der Bucht führten. Aber es gab eine Stelle, die sie über alles schätzte.

Zuerst überquerte sie die Hürdenfurt zum nördlichen Ufer. Dann folgte sie verschiedenen Wegen durch die flachen, sumpfigen Weiten und anschließend in sanftem Bogen bis zu dem langen östlichen Strand. Dann sah sie am Ende einer lang gestreckten Landzunge den riesigen Buckel der nördlichen Halbinsel aufragen. Und mit neuer Freude im Herzen schritt sie auf ihn zu und begann ihn zu besteigen.

Auf dem Gipfel dieses hohen Buckels auf der Halbinsel befand sich ganz einsam und allein dastehend ein Unterschlupf. Vor langer Zeit von Menschen oder Göttern dorthin gesetzt, bestand er aus einigen dicht nebeneinander und aufrecht stehenden Steinen, über denen eine riesige flache Steinplatte lag, die in schrägem Winkel in den Himmel ragte. Im Innern dieses Dolmens wurde der Meereswind zu einem friedlich sanften Säuseln gedämpft. Aber wenn sie auf dem Steindach saß oder lag, konnte Deirdre in der Sonne vor sich hin träumen oder die Aussicht genießen.

Das Meer wirkte von hier oben wie geschmolzenes Gestein und doch kühlend – Wasser gewordene Lava, Haut des Meeresgottes. Und jenseits der Bucht, die ganze Küstenlinie entlang, bildeten Felsvorsprünge und Landspitzen, Hügel und Bergrücken und die lieblichen Konturen einstiger Vulkane einen im Dunst verschwindenden Horizont.

Aber so sehr Deirdre diese Aussicht auch bewunderte, liebte sie es doch ganz besonders, von diesem Landvorsprung aus in die entgegengesetzte Richtung nach Norden zu blicken. Auch hier öffnete sich, wenn auch weniger beeindruckend, ein herrlicher Küstenbogen, und dahinter war der Landstrich, der die Ebene der Vogelscharen genannt wurde. Nördlich der Landzunge gab es eine weitere Flussmündung, in der zwei Inseln lagen. Die größere, weiter entfernte, deren lang gezogene Linien sie an einen Fisch erinnerten, erweckte bei aufgewühlter See zuweilen den Eindruck, als triebe sie ins Meer hinaus. Aber was Deirdre am meisten bezauberte, war die kleinere Insel. Sie lag nur ein kurzes Stück vom Strand der Küste entfernt. Es dürfte nicht schwer sein, so vermutete sie, zu ihr hinüberzurudern. Sie hatte auf einer Seite einen sandigen Strand und in ihrer Mitte einen mit Heidekraut bewachsenen Hügel. Aber auf der Seeseite erhob sich eine kleine Felsenklippe, die gespalten war, so dass sich zwischen ihrer Front und einem frei stehenden Felspfeiler eine Lücke mit einem Kiesstrand gebildet hatte. Wie behaglich und anheimelnd diese Nische wirkte! Die Insel war unbewohnt und hatte keinen Namen. Und doch sah sie so einladend aus! An warmen Nachmittagen konnte Deirdre dasitzen und sie ganze Stunden lang sehnsüchtig betrachten. Einmal hatte ihr Vater sie dorthin mitgenommen, und wenn sie nach einem langen Ausflug erst spät nach Hause kam, pflegte er schmunzelnd zu fragen: »Nun, Deirdre, hast du etwa wieder nach deiner Insel gesehen?«

Auch an diesem Morgen war sie dort gewesen, war aber in gereizter Stimmung zurückgekehrt. Ein Regenschauer hatte sie überrascht. Aber vor allem der Gedanke an ihre Hochzeit drückte sie nieder. Sie hatte den Mann, den Goibniu und ihr Vater vorschlugen, zwar noch nicht kennen gelernt, aber wen sie auch heiratete, es würde in jedem Fall bedeuten, dass sie diese geliebten Küsten verlassen müsste. Denn ich kann nun mal nicht die Meeresvögel heiraten, dachte sie traurig. Und dann stellte sie bei ihrer Rückkehr auch noch fest, dass einer der beiden britischen Sklaven aus Ungeschick ein Fass von Vaters bestem Wein zerschlagen hatte und dass über die Hälfte des Fasses ausgelaufen war. Ihr Vater und ihre Brüder waren zum Glück nicht zu Hause, sonst hätte der Sklave sich auf eine Auspeitschung gefasst machen können, aber sie verfluchte ihn gnadenlos bei allen Göttern. Was sie noch mehr in Zorn gebracht hatte, war, dass der arme Kerl, anstatt sich zu entschuldigen oder zumindest ein tief betrübtes Gesicht zu machen, sobald er hörte, welche Götter sie anrief, auf die Knie gefallen war, sich bekreuzigt und seine Gebete gebrabbelt hatte.

Insgesamt betrachtet war die Anschaffung der zwei Sklaven von der Westküste Britanniens einer der besseren Einfälle ihres Vaters gewesen. Fergus mochte alle möglichen Fehler haben, aber wenn es um den Viehbestand oder menschliche Arbeitskraft ging, besaß er einen ausgezeichneten Blick. Viele Briten von der Ostseite der Nachbarinsel konnten, so hatte sie gehört, keine andere Sprache außer Latein sprechen. Sie nahm an, dass dies nach jahrhundertelanger Römerherrschaft nicht verwunderlich war. Aber die Briten von der Westküste sprachen zumeist eine Sprache, die der ihren sehr ähnlich war. Der eine der Sklaven war groß und stämmig, der andere kurz gewachsen; beide hatten dunkles Haar und waren als Zeichen ihres Standes an Kinn und Wangen glatt bis auf die Haut rasiert. Sie arbeiteten hart. Aber schon kurz nach ihrer Ankunft hatte Deirdre sie einmal dabei überrascht, wie sie gemeinsam beteten. Sie hatten ihr erklärt, sie seien Christen. Deirdre wusste zwar, dass viele Briten Christen waren, und sie hatte sogar von kleinen christlichen Gemeinden hier auf der Insel gehört, aber sie wusste nur wenig über diese Religion. Leicht besorgt hatte sie ihren Vater gefragt, der sie jedoch beruhigte:

»Die britischen Sklaven sind häufig Christen. Es ist eine Sklavenreligion. Lehrt ihnen, dass sie untertänig und gehorsam sein sollen.«

Daher hatte sie den stämmigen Sklaven weiter seine Gebete aufsagen lassen und hatte sich ins Haus begeben – ein rundes Gebäude mit Wänden aus Lehm und Weidengeflecht von etwa fünfzehn Fuß Durchmesser. Sein Licht erhielt es durch die drei Eingänge, die offen standen, um die frische Morgenluft hereinzulassen. In der Mitte des Raums befand sich ein Herd; Rauchschwaden des Herdfeuers schwebten durch das Strohdach darüber in die Höhe. Neben dem Feuer stand ein großer Kessel und auf einem niedrigen Holztisch eine Sammlung von Holzschalen – denn im Gegensatz zu früheren Zeiten benutzte man auf der Insel nur noch selten Töpferwaren.

Deirdre saß eine Weile da und kämmte ihr Haar, das vom Regen verfilzt war. Hinter ihrer häufigen Gereiztheit in letzter Zeit verbarg sich etwas, das ihr seit zwei Monaten, seit ihrer Rückkehr vom Lughnasa–Fest, keine Ruhe ließ: ein hoch gewachsener, blasser junger Prinz. Sie zuckte wegwerfend die Schultern. Es war sinnlos, weiter an ihn zu denken.

Dann hörte sie den närrischen Sklaven nach ihr rufen,

* * *

Conall stand in seinem Streitwagen und sah den Regenbogen über dem Meer. Zwei flinke Pferde waren an die Mitteldeichsel geschirrt. An seinem Arm trug er eine schwere bronzene Armspange. Wie es seinem Rang gebührte, befand sich in seinem Wagen auch sein Speer, sein Schild und sein funkelndes Schwert. Sein Wagenlenker führte die Zügel.

Was hatte er eigentlich vor? Selbst als Dubh Linn und die Furt in Sicht kamen, war sich Conall darüber noch nicht so recht im Klaren gewesen. Er war drauf und dran gewesen, seinem Freund Finbarr an alledem die Schuld zu geben, hatte sich aber gerade noch besonnen. Es war nicht Finbarrs Schuld. Es war diese junge Frau mit ihrem goldenen Haar, ihren wundervollen Augen.

Conall war noch nie verliebt gewesen. Er war zwar nicht unbeleckt von Erfahrung mit Frauen – dafür hatte das Gefolge des Hochkönigs gesorgt. Natürlich hatte er diese oder jene anziehend gefunden, aber wenn er sich eine Zeit lang mit einer jungen Frau unterhielt, hatte er jedes Mal das Gefühl, als hätte sich eine unsichtbare Schranke zwischen sie gesenkt. Die Frauen selbst bemerkten dies nicht immer; wenn der hübsche Neffe des Hochkönigs zuweilen ein wenig gedankenverloren oder melancholisch wirkte, fanden sie dies sogar attraktiv. Aber ihn selbst stimmte es traurig, dass er seine Gedanken nicht mitteilen konnte und dass die ihren immer so vorhersehbar waren.

»Du erwartest einfach zu viel«, hatte Finbarr ihm unumwunden gesagt. »Du kannst von einer jungen Frau nicht verlangen, dass sie so tiefsinnig und weise wie ein Druide ist.«

Aber es war mehr als das. Seit seiner frühesten Kindheit war er, sobald er allein am Ufer der Seen saß oder zusah, wie die rote Sonne unterging, stets von dem Gefühl einer inneren Verbundenheit überwältigt worden, von einem Gefühl, dass die Götter ihn zu einem besonderen Ziel ausersehen hatten. Manchmal erfüllte ihn dies mit unaussprechlicher Freude; dann wieder erschien es ihm wie eine unerträgliche Last. Zuerst hatte er angenommen, dass jeder dasselbe empfand, und war ziemlich überrascht gewesen, als er entdeckte, dass dies nicht der Fall war. Er hatte nicht den geringsten Wunsch, sich von den anderen abzusondern. Aber im Laufe der Jahre waren diese Empfindungen nicht verschwunden, sondern sogar noch stärker geworden. Und so kam es, dass er jedes Mal, wenn er einem wohlmeinenden Mädchen in die Augen sah, von einer inneren Stimme verunsichert wurde, die ihm sagte, dass sie eine Ablenkung war und ihn von dem Weg seiner Bestimmung fortlockte.

War dieses Mädchen mit den eigenartig grünen Augen nur eine besonders große Ablenkung? Er glaubte nicht, dass sie sich in ihrer Art von den anderen Frauen unterschied, denen er bisher begegnet war. Und doch hatte sich die warnende Stimme, die ihn gewöhnlich verunsicherte, diesmal nicht laut genug gemeldet, um an sein inneres Ohr zu dringen. Er fühlte sich zu dieser jungen Frau hingezogen. Er wollte mehr über sie erfahren. Es dürfte Finbarr sonderbar vorgekommen sein, dass er so lange gezögert hatte, bevor er seinen Wagenlenker zu sich befahl, ein Paar seiner schnellsten Pferde an seinen leichten Streitwagen schirrte und ohne zu sagen, wohin er fuhr, zur Hürdenfurt und dem »dunklen Teich«, genannt Dubh Linn, aufbrach.

Er sah sofort, dass Fergus’ Bauernhof ein eher bescheidenes Anwesen war, und dies schien ihm seinen Besuch zu erleichtern. Hätte er einen Häuptling besucht, so hätte sich die Nachricht nämlich wie ein Lauffeuer über die ganze Insel verbreitet. Nun aber überquerte er die Hürden, registrierte insgeheim, dass sie dringend der Ausbesserung bedurften, und gelangte so auf ganz natürliche Weise zu dem Rath des Fergus, um dort um eine Erfrischung zu bitten, bevor er weiter seiner Wege zog.

Sie traf ihn am Eingang des Hofs. Nachdem sie ihn höflich begrüßt und sich für die Abwesenheit ihres Vaters entschuldigt hatte, der auf der Jagd sei, führte sie ihn ins Haus und bot ihm die gewohnte Bewirtung für einen Reisenden an. Als man das Bier brachte, schenkte sie ihm persönlich ein. Ganz ruhig und höflich erwähnte sie ihre Begegnung auf dem Lughnasa–Fest, und doch schien ihm, als hätte dabei ein Lächeln in ihren Augen aufgeleuchtet. Sie war wirklich noch bezaubernder, als er sie in Erinnerung hatte. Er fragte sich gerade, wie lange er seinen Besuch wohl ausdehnen durfte, als sie wissen wollte, ob er sich nach dem Überqueren der Furt den dunklen Teich angesehen hatte, der dem Ort seinen Namen gab.

»Nein«, log er. Und als sie ihn fragte, ob sie ihm den Teich zeigen solle, sagte er mit Freuden »Ja«.

Sei es, dass die Blätter der Eiche, die über dem Teich stand, sich in ein goldenes Braun verfärbt hatten oder dass es ein besonderes Licht an diesem Tag war, jedenfalls befiel Conall, während er mit Deirdre so dastand und von dem steilen Ufer hinabblickte, eine flüchtige Furcht, die dunklen Wasser des Teichs würden ihn im nächsten Moment unausweichlich in bodenlose Tiefen hinabziehen. Natürlich hatte jeder Teich etwas Magisches an sich. Verborgene Eingänge unter seinen Wassern konnten hinabführen in die Anderswelt. Dies war der Grund, weshalb die Opfergaben für die Götter in Form von Waffen, Kultkesseln oder goldenem Schmuck so häufig in ein Wasser geworfen wurden. Aber Conall hatte in jenem Augenblick das Gefühl, als stelle der dunkle Teich von Dubh Linn für ihn eine rätselhaftere und namenlose Bedrohung dar. Nie zuvor hatte er ein solches Gefühl von Angst verspürt und wusste kaum, wie er es deuten sollte.

Die junge Frau an seiner Seite schmunzelte.

»Außerdem haben wir hier noch drei Quellen«, bemerkte sie »Eine von ihnen ist der Göttin Brigid geweiht. Möchtet Ihr sie sehen?«

Er nickte.

Sie sahen sich die Quellen an, die lieblich auf dem Hang oberhalb des Liffey sprudelten. Dann gingen sie über die offene Wiesenfläche wieder zurück zum Rath. Und als sie ein paar Schritte gegangen waren, wurde Conall auf einmal unsicher, wie er sich verhalten sollte. Das Mädchen tat nichts von alledem, was andere Mädchen taten. Sie kam ihm weder zu nahe noch streifte sie ihn flüchtig mit der Hand. Wenn sie ihn anblickte, dann nur mit einem arglosen Lächeln. Sie war freundlich; sie war herzlich. Er wollte seinen Arm um sie legen. Aber er tat es nicht. Als sie den Rath erreicht hatten, sagte er, er müsse nun wieder aufbrechen.

War eine Spur von Enttäuschung in ihrem Gesicht zu lesen? Vielleicht ein winziger Hauch. Hoffte er, dass es so wäre? Ja, er spürte, dass er es hoffte.

»Auf Eurem Rückweg kommt Ihr wieder hier vorbei«, sagte sie. »Das nächste Mal solltet Ihr ein wenig länger bei uns verweilen.«

»Ja, das werde ich«, versprach er. »Schon bald.« Dann rief er nach seinem Wagen und fuhr von dannen.

* * *

Als Fergus an jenem Abend nach Hause kam und Deirdre ihm erzählte, dass ein Reisender vorbeigekommen war, erwachte sofort seine Neugier. »Was für eine Art Reisender?«, wollte er wissen.

»Einer, der auf dem Weg nach Süden war. Er ist nicht lange geblieben.«

»Und du hast nichts über ihn herausgefunden?«

»Er sei zu Lughnasa in Carmun gewesen, hat er gesagt.«

»Genau wie halb Leinster auch«, entgegnete er.

»Er hat gesagt, er hätte uns dort gesehen«, meinte sie vage, »aber ich konnte mich nicht an ihn erinnern.« Der Gedanke, einem Fremden nicht nur einmal, sondern gleich zweimal zu begegnen und immer noch nicht zu wissen, was er so trieb, war für ihren Vater so unverständlich, dass er sie nur wortlos anstarren konnte. »Ich habe ihm Bier gegeben«, sagte sie strahlend. »Vielleicht kommt er wieder.« Und bei diesen Worten hatte sich ihr Vater zu ihrer Erleichterung abgewandt, hatte seinen Lieblingsplatz bei seinem Trinkschädel eingenommen, sich in seinen Mantel gewickelt und zum Schlafen niedergelegt.

Deirdre war danach jedoch noch eine geraume Weile wach geblieben, hatte die Knie an ihr Kinn gezogen und so dagesessen und an den vergangenen Tag zurückgedacht.

An jenem Morgen war sie stolz auf sich gewesen. Als sie Conall nahen sah, hatte sie zuerst unwillkürlich nach Luft geschnappt und dann gefühlt, wie ihr die Knie zu zittern begannen. Sie hatte ihre ganze Konzentration und Willenskraft zusammennehmen müssen. Aber als Conall den Eingang erreicht hatte, war sie wieder vollkommen gefasst gewesen. Sie war nicht rot geworden. Und sie hatte die ganze Zeit, während er geblieben war, ihre Fassung behalten. Aber hatte sie ihm auch genug Ermutigung gegeben, um wiederzukommen? Der Gedanke, sie könnte ihm die Lust dazu genommen haben, war sogar noch schrecklicher als der, sich vielleicht töricht benommen zu haben. Als sie zu dem Teich gegangen waren, hatte sie sich gefragt: Soll ich ihn berühren? Aber sie dachte: lieber nicht. Sie glaubte, dass sie sich richtig verhalten hatte. Aber wie sehr hätte sie sich gewünscht, dass er auf dem Rückweg seinen Arm um sie legte.

Nur eines wusste sie: Je länger ihr Vater nicht roch, woher der Wind wehte, desto besser.

Und warum interessierte sie sich eigentlich so sehr für diesen schweigsamen und gedankenverlorenen Fremden? Weil er ein Prinz war? Nein, das war nicht der Grund.

Es war eine alte Tradition, dass der Hochkönig ein vollkommener Mensch zu sein hatte. Er durfte keinen Makel haben. Jeder kannte die Geschichte von Nuadu, dem sagenhaften König der Götter. Als er im Kampf eine Hand verloren hatte, war er von seiner Königsherrschaft zurückgetreten. Dann hatte man ihm eine Hand aus Silber hergestellt, die sich schließlich in eine natürliche Hand zurückverwandelte. Erst dann konnte Nuadu Silberhand wieder König sein. Genauso war es, wie man glaubte, auch mit dem Hochkönig. War der Hochkönig nicht vollkommen, dann würde er den Göttern missfallen. Dann würde die Königswürde ein Fluch treffen, sie wäre vernichtet.

Deirdre hatte das Gefühl, dass dieser gut aussehende Krieger, der, wie ihr schien, gezögert hatte, sie auf dem Lughnasa–Fest kennen zu lernen, diese königlichen Qualitäten besaß. Sein Körper war ohne Makel – das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Aber was ihn vor allem von den anderen abhob, war seine nachdenkliche Art, das Zurückhaltende, ja sogar Geheimnisvolle und Schwermütige, das seine Person umgab. Dieser Mann war etwas Besonderes. Er war nicht für eine beliebige gedankenlose und grobschlächtige Frau geschaffen. Und er war bis nach Dubh Linn gekommen, um sie zu sehen. Dessen war sie sich sicher. Die Frage war nun: Würde er wiederkommen?

Am nächsten Tag strahlte die Sonne. Der Vormittag verlief ohne besondere Vorkommnisse, jeder ging seinen gewohnten Geschäften nach. Es war beinahe Mittag, als einer der britischen Sklaven meldete, es kämen Reiter über die Furt geritten. Deirdre lief sofort hinaus, um nachzusehen, wer es war. Es waren nur zwei, in einem leichten Karren, gefolgt von einem kleinen Treck von Packpferden. Den hoch gewachsenen Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen. Den kleineren dagegen erkannte sie mühelos: Goibniu, der Schmied.

* * *

Conall erwachte bei Tagesanbruch. Am Abend davor hatte er, nachdem er Deirdre verlassen hatte, das hohe Vorgebirge am Fuß der breiten Bucht des Liffey überquert und die ganze Nacht an einer geschützten Stelle an einem Felsen verbracht. Nun kletterte er im frühen Leuchten der Morgendämmerung auf den Felsvorsprung hinauf.

Zu seiner Rechten erhoben sich die sanften Hügel und vulkanischen Gebirge, die gerade die ersten Strahlen der Sonne auffingen, zu seiner Linken schimmerte silbern der See. Zwischen diesen Welten entfaltete sich der gewaltige Bogen offenen Landes wie ein grüner Mantel die Abhänge hinab und die Küstenlinie entlang.

Ein Stück weiter unten auf dem Hang vor sich sah er einen Fuchs durch das offene Gras schnüren und zwischen den Bäumen verschwinden. Rings um ihn her war die Luft erfüllt vom Chor der Morgendämmerung. In weiter Ferne, direkt am Rand des Meeres, sah er den lautlosen Schatten eines Reihers über das Wasser gleiten. Er spürte die schwache Wärme der aufgehenden Sonne auf seiner kalten Wange und wandte seinen Blick nach Osten. Es war, als sei die Welt gerade erst entstanden.

In Momenten wie diesen, wenn die Welt so vollkommen schien, dass er wünschte, er könnte seinen Mund öffnen wie die Vögel rings um ihn her, um ihren Lobpreis zu singen, bemerkte Conall immer wieder, dass ihm plötzlich die Worte der alten keltischen Dichter in den Sinn kamen. Und an diesem Morgen waren es die der ältesten von ihnen – die Worte von Amairgen, dem Dichter, der mit den ersten keltischen Einwanderern auf die Insel gelangte, die sie dem göttlichen Volk der Tuatha De Danann raubten. Es war Amairgen gewesen, der, als er an einem Küstenstrich wie diesem seinen Fuß an Land setzte, jene Worte sprach, die zum Fundament aller keltischen Dichtung wurden:

Ich bin Wind auf Meer
Ich bin Ozeanwoge
Ich bin Tosen der See
Ich bin der Stier der sieben Kämpfe…

Der Dichter war ein Stier, ein Geier, ein Tautropfen, eine Blume, ein Lachs, ein See, eine spitze Waffe, ein Wort, ja sogar ein Gott. Der Dichter konnte sich in alle Dinge verwandeln, und dies nicht nur mithilfe der Magie, sondern weil alle Dinge eins sind: Mensch und Natur, Meer und Festland, ja, selbst die Götter gingen alle aus einem einzigen Urnebel hervor und erhielten in einer einzigen endlosen Verzauberung ihre Gestalt. Dies war das Wissen der Alten, das auf der westlichen Insel von den Druiden bewahrt wurde.

Und dies war es, was Conall empfand, wenn er allein war das Gefühl, mit der Natur eins zu sein. Es war so intensiv, so bedeutend, so kostbar für ihn, dass er nicht sicher war, ob er ohne es leben könnte. Und ihm stellte sich eine Frage: Verlierst du dieses mächtige Gefühl des Einsseins, wenn du Seite an Seite mit anderen zusammenlebst? Kannst du solche Erfahrungen mit einer Frau teilen?

Er begehrte Deirdre. Dessen war er sich bereits sicher. Er wollte wieder zu ihr zurückkehren. Aber würde er, wenn er es tat, auf eine Weise, die ihm bisher noch unklar war, nicht sein Leben verlieren?

* * *

Er war ein gut aussehender Mann, das konnte man nicht leugnen: hoch gewachsen, um die Schläfen bereits leicht kahl, etwa um die dreißig, schätzte sie, mit einem Gesicht, das an eine Felsklippe gemahnte; die Augen schwarz, aber nicht unfreundlich. Sie hatten sich recht heiter und ungezwungen unterhalten, und nach einer Weile, nachdem er sich Gewissheit über ihre Vorlieben und Abneigungen verschafft und sich, wie sie annehmen musste, ein erstes Urteil über ihren Charakter gebildet hatte, bemerkte sie, wie er Goibniu einen flüchtigen Blick zuwarf. Offenbar ein verabredetes Zeichen. Denn sie sah, dass der Schmied schon bald darauf ihren Vater am Arm nahm und vorschlug, für einen Moment vor die Tür zu treten.

Nun sollte sie verheiratet werden. Sie hatte keine Zweifel, dass das Angebot zugkräftig ausfallen würde. Und soweit sie bisher sagen konnte, war ihr zukünftiger Gemahl ein feiner, aufrechter Mann. Sie konnte sich glücklich schätzen. Das einzige Problem war, dass sie ihn, zumindest im Moment, nicht haben wollte.

Sie erhob sich und lächelte. Die Männer beobachteten sie erwartungsvoll, aber als sie andeutete, dass sie mit ihrem Vater allein zu sprechen wünschte, trat er zu ihr.

»Was ist, Deirdre?«

»Macht er gerade ein Angebot für mich, Vater?«

»Ja, das macht er. Ein ganz hervorragendes. Hast du etwas einzuwenden?«

»Nein, überhaupt nicht. Du kannst Goibniu sagen« – dabei lächelte sie dem Schmied zu –, »dass mir seine Wahl gefällt. Er scheint ein guter Mann zu sein.«

»Ah.« Die Erleichterung ihres Vaters war förmlich zu spüren. »Das ist er in der Tat.« Er schien Anstalten zu machen, wieder zu dem Schmied zurückzukehren.

»Aber ich frage mich«, fuhr sie fröhlich fort, »ob es da nicht etwas gibt, was ich dir sagen sollte.«

»Und das wäre?«

Jetzt galt es: alles oder nichts. Egal, wie viel sie dabei riskierte, jetzt musste sie ihre Chance nutzen.

»Hast du schon mal von Conall, Sohn des Morna, gehört, Vater? Er ist der Neffe des Hochkönigs.«

»Ja, das habe ich. Aber ich kenne ihn nicht.«

»Aber ich. Ich bin ihm auf dem Lughnasa–Fest begegnet.« Sie hielt inne, als er sie sprachlos anstarrte. »Er war derjenige, der gestern hierher gekommen ist. Und ich glaube, er kam, um mich zu sehen.«

»Bist du ganz sicher? Meint er es auch ernst?«

»Wie soll ich das wissen, Vater? Vielleicht, aber – wir brauchten mehr Zeit. Wie können wir sie gewinnen?«

Und nun musste der Häuptling, der die Kunst des Viehhandels beherrschte, schmunzeln.

»Geh hinein, mein Kind«, sagte er, »und überlass das mir.«

»Er missfällt ihr doch nicht, oder?«, fragte Goibniu scharf, als Fergus zurückkehrte.

»Im Gegenteil. Sie kam zu mir, um mir zu sagen, dass er ihr gefällt«, sagte Fergus grinsend und fügte freundlich hinzu, »sogar recht gut.«

Goibniu nickte lebhaft.

»Recht gut, das wird genügen. Und der Preis?«

»Ist akzeptabel.«

»Dann nehmen wir sie jetzt gleich mit.«

»Oh, das wird nicht möglich sein.«

»Warum denn nicht?«

»Den Winter über«, sagte Fergus beiläufig, »werde ich sie noch bei mir brauchen. Aber im Frühling…«

»Aber gerade für den Winter wird er eine Frau haben wollen, Fergus.«

»Wenn seine Absichten aufrichtig sind…«

»Bei den Göttern, Mann«, platzte Goibniu nun heraus, »er würde nicht den ganzen Weg von Ulster bis hierher in dieses elende Nest zu machen, wenn er es nicht aufrichtig meinte.«

»Es freut mich, das zu hören«, sagte Fergus feierlich. »Und im Frühling wird sie die seine sein.«

Goibniu kniff das Auge zusammen und blinzelte.

»Ihr habt wohl noch ein anderes Angebot.«

»Nein, überhaupt nicht.« Fergus hielt inne. »Selbstverständlich hätte ich noch eines haben können. Aber sobald ich sah, dass kein Geringerer als Ihr für mich vermittelt…«

»Ich schätze es nicht, wenn man mich hintergeht«, fiel ihm Goibniu scharf ins Wort.

»Sie wird die seine werden«, versicherte Fergus. »Das steht außer Zweifel.«

»Und du wirst die seine werden müssen, Deirdre«, sagte er später zu seiner Tochter, nachdem ihre Besucher abgereist waren, »wenn sich dein Conall, bevor es Frühling wird, nicht gemeldet hat.«